Umkreis Pietro Vannucci, gen. Perugino

(Castel della Pieve um 1450 – Fontignano 1523)

Horatius Cocles, Nachzeichnung nach einem Fresko im Audienzsaal des Collegio del Cambio in Perugia, nach 1496

Feder in Braun auf gebräuntem, partiell ausgebessertem Papier, 21,3 x 15,8 cm

Provenienz:

Ernst Bacher (?); Nachlass Erich Herzog, Kassel

GS 18161

Literatur:

unpubliziert

Am 26. Januar 1496 beschloss die Wechslerzunft in Perugia, ihren Audienzsaal im Collegio del Cambio mit einem aufwendigen Programm ausmalen zu lassen.[1] Den prestigeträchtigen Auftrag erhielt Pietro Vannucci, gen. il Perugino, der in Florenz und in Perugia eine äußerst produktive, straff organisierte Werkstatt betrieb, die in ihrer Blütezeit trotz ihrer zahlreichen Mitarbeiter der großen Nachfrage kaum nachkommen konnte. Für die Dekoration des Audienzsaales, die nach einer Datierung an der Nordwand in Teilen bereits 1500 vollendet war, hat Perugino nach Vasari eigens weitere Mitarbeiter angeworben.[2]

Die Kasseler Federzeichnung bezieht sich auf eines der Lünettenfresken des Saales. Unter einer Allegorie der Fortezza und der Temperanzia erscheinen dort als Standfiguren sechs antike Helden, nämlich Lucius Licinius, Leonidas, Horatius Cocles, Publius Scipio, Perikles und Cincinnatus, die jeweils für eine der Tugenden stehen. Von Abweichungen in den dekorativen Details abgesehen, gibt die Zeichnung die Figur des Horatius Cocles im Ausschnitt bis zur Hüfte getreu wieder. Horatius Cocles, hier Vertreter der Tapferkeit, soll der Legende nach im Jahr 507 v. Chr. eine Brücke über den Tiber alleine gegen die Etrusker verteidigt und dabei in voller Rüstung den Fluss durchschwommen haben. Hier erscheint er in seiner Rüstung mit dem Speer in der rechten Hand, die linke stützt er auf seinen am Boden stehenden Schild.

Trotz der Abweichungen in den Details, bei der Helmzier, dem Speer oder der Rüstung, handelt es sich bei der Zeichnung nicht um eine Vorstudie zu dem Fresko, sondern um eine Nachzeichnung, die möglicherweise von einem Werkstattmitglied nach der ausgeführten Fassung oder nach einer Entwurfszeichnung angefertigt wurde. In der Werkstatt Peruginos war es üblich, wichtige Figurenerfindungen durch Zeichnungen für den eigenen Motivvorrat festzuhalten. Weiter dienten die Kopien der Verbreitung der Motive über die Werkstatt hinaus. Häufig wurden die Zeichnungen von Schülern angefertigt, die sich durch das Nachzeichnen den Stil des Meisters aneignen sollten.[3]

Zur Ausmalung des Audienzsaales im Collegio del Cambio haben sich etliche Nachzeichnungen erhalten, aber nur sehr wenige eigenhändige Entwurfszeichnungen.[4] Die Neigung zu dichten, gekreuzten Schraffuren, wie sie sich bei dem Kasseler Blatt im Gesicht des Helden findet, ist typisch für die Zeichenweise der Mitglieder der Perugino-Werkstatt, die keinen Raum für die Ausbildung einer individuellen Handschrift ließ. Im Vergleich zu dem sehr feinen Gitter der Schraffuren im Gesicht hat der Zeichner den Körper des Helden nur grob mit einfachen, schematisch wirkenden parallel gesetzten Federstrichen erfasst. Dies ist eher ungewöhnlich, da die meisten Nachzeichnungen aus dem unmittelbaren Umfeld Peruginos die gesamten Figuren in feiner, gegitterter Kreuzschraffur erfassen. Etwas freier wirkt die Zeichenweise an den dekorativen Ergänzungen beim Helm oder beim Speer, die der Zeichner der Vorlage hinzufügte.

[1] Vgl. dazu Scarpellini 1984, S. 95–99.

[2] Kat. Florenz 1982, S. 49.

[3] Kat. Florenz 1982, S. 51.

[4] Vgl. etwa Popham/Pouncey 1950, Nr. 190, 202; Kat. Frankfurt a. M. 1980, Nr. 72; Kat. Florenz 1982, Nr. 25–30; Schulze Altcappenberg 1995, Nr. 118–119.

Veröffentlicht am 31.03.2009

Letzte Aktualisierung am 15.08.2012