Giorgio Vasari zugeschrieben

(Arezzo 1511 – Florenz 1574)

Christus im Haus von Martha und Maria, vermutlich 1545

Feder in Braun, graubraun laviert auf Papier, kaschiert, 10,8 x 19,1 cm (rechts und links angestückt)

Oben links mit Graphit bez.: L. Carracci; daneben mit brauner Feder: N. 182 [?]

Provenienz:

Nachlass Erich Herzog, Kassel

GS 17093

Literatur:

unpubliziert

Die kleine, auf den ersten Blick unspektakuläre Skizze, die bislang dem Bologneser Maler Donato Creti (1671–1749) zugeschrieben war, bietet, was ihre Ikonographie und Zuschreibung angeht, bei genauerem Studium durchaus Überraschungen. Mit rasch ausgeführten, den Raum und die Figuren nur grob umreißenden Federstrichen hat der Zeichner drei Personen in einem nischenförmigen Innenraum festgehalten, der von einer Öllampe beleuchtet wird. Rechts sitzt Christus in bewegter Pose auf einem Stuhl. Gestikulierend wendet er sich zwei Frauen zu, von denen sich die eine zu seinen Füßen auf dem Boden niedergelassen hat, während die andere mit überkreuzten Armen ihm gegenüber auf der Bank sitzt, mit der die Nische ausgekleidet ist.

Bei der dargestellten Begegnung scheint es sich um den Besuch Christi im Hause von Maria und Martha nach Lukas 10, 38–42 zu handeln – ein Thema, das erst um die Mitte des 16. Jahrhunderts selbständig darstellungswürdig wurde, davor fast ausschließlich im zyklischen Zusammenhang auftrat und in Italien vor allem als Dekoration von Refektorien beliebt wurde.[1] So schuf Vasari 1539/40 für das neue Refektorium von S. Michele in Bosco in Bologna u. a. drei großformatige Tafeln, die an die Stelle des Abendmahls traten, das traditionellerweise zur Ausstattung von Refektorien gehörte. Neben „Abraham und den Engeln“ und dem „Mahl des hl. Gregor“ gehörte auch „Christus im Haus von Martha“ zu den in S. Michele gezeigten Themen.[2]

Im Gegensatz zu der Kasseler Skizze vertritt das Gemälde von Vasari, zu dem sich eine Entwurfszeichnung im Cabinet des Dessins im Louvre (Abb. 1) erhalten hat,[3] exemplarisch die traditionelle Auffassung von dieser biblischen Erzählung: Christus thront ruhig auf einem Sessel, umgeben von Geschäftigkeit. Vor ihm auf dem Boden hockt Maria in das Gespräch mit ihm vertieft, während ihre Schwester Martha, damit beschäftigt, das Mahl für die Gäste vorzubereiten, sich klagend an Christus wendet: „Herr, fragst Du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll! Der Herr aber sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist Not. Maria hat das gute Teil erwählt, das soll nicht von ihr genommen werden.“

Seit der Auslegung der Lukasperikope durch Augustinus wurde Martha stets als Sinnbild der Vita activa aufgefasst, Maria dagegen vertrat die Vita contemplativa. Diese gegensätzliche Auffassung der beiden Schwestern hatte zur Folge, dass sie in bildlichen Darstellungen in Haltung und Gestik deutlich voneinander abgesetzt wurden, Martha immer stehend und geschäftig bei ihrer Arbeit, Maria in sich ruhend zu Füßen Christi. Von dieser Darstellungskonvention weicht die Kasseler Zeichnung deutlich ab, indem sie beide Frauen in kontemplativer Haltung im Gespräch mit Christus vereint und dabei auf die üblichen Begleitfiguren, die Apostel oder das Küchenpersonal, verzichtet. Wie ist diese ungewöhnliche Darstellungsweise zu erklären?

Vergleicht man die Kasseler Skizze noch einmal mit der Entwurfszeichnung des Louvre von Vasari, so fällt jedoch zunächst etwas anderes ins Auge: Die Figur Christi weist in Haltung und Habitus jeweils große Übereinstimmungen auf. Auf beiden Blättern thront Christus auf einem Sessel in lockerer Pose, das linke Bein über das rechte geschlagen. Beide Male stützt er sich mit dem linken Arm auf der Lehne des Sessels ab, während er sich mit der rechten Hand gestikulierend an Maria wendet. Sein Kopf erscheint jeweils im Vollprofil. Für die ungewöhnliche Haltung Christi mit den übereinandergeschlagenen Beinen finden sich keine Vergleichsbeispiele bei anderen Darstellungen des Themas.

Die enge Beziehung der Kasseler Skizze zu Vasari, die sich hier bereits andeutet, lässt sich aber noch auf andere Weise belegen: 1970 publizierte Edmund Pillsbury ein kleinformatiges Gemälde auf Schiefer aus der Sammlung des Marquis of Bristol in Ickworth (Abb. 2), das ehemals Sebastiano del Piombo (um 1485–1547) zugeschrieben war und erstmals von Philipp Pouncey mit Vasari verbunden wurde.[4] Pillsbury setzte diese Tafel in Beziehung zu dem Ricordo 161 vom 9. Januar des Jahres 1546. Dort berichtet Vasari: „(1546) Ricordo, come si mando a di .9. di Gennaio a Napolj al Rosso, maestro di casa, di messer Tomaso Canbj, un quadro in pietra, quando Cristo amaestra Marta et Madalena.“[5]

Das Tafelbild, zu dem sich zwei Entwurfs- bzw. Nachzeichnungen in der Devonshire[6] und in der Sir Robert Mond Collection erhalten haben[7] sowie ein Reproduktionsstich von Elisha Kirkall (um 1682–1742)[8] aus dem Jahr 1724, zeigt trotz der seitenverkehrten Anordnung der Personen auffällige Parallelen mit der Kasseler Zeichnung: Die räumliche Situation, in der sich die Figuren versammelt haben, ist ähnlich, ihre Haltung ebenfalls und an der gleichen Stelle prangt jeweils die gleiche Öllampe. Die Zeichnung in Chatsworth (Abb. 3), die wie die Kopie der Sir Robert Mond Collection aus der Sammlung von Sebastiano Resta stammt, wo sie dem bergamesischen Maler Enea Salmeggio (um 1556–1626) zugeschrieben war, ist im Vergleich zu der Schiefertafel in vielen Details differenzierter. So ist beispielsweise das Mauerwerk der Nische, vor der sich die Personen befinden, deutlich sichtbar, die Bank hat gedrechselte Beine und im Lichtschein der Öllampe erkennt der Betrachter einen Kranz von Engelsköpfen. Während Michael Jaffé in seinem Bestandskatalog der Devonshire Collection die Zeichnung ohne Einschränkung Vasari zuschreibt, beurteilt Florian Härb, London, das Blatt kritischer.[9] „Die Beurteilung der Zeichnung aus Chatsworth ist wegen ihres schlechten Zustands etwas komplizierter. Hier handelt es sich entweder einfach um eine Kopie nach einem Blatt Vasaris oder um eine wirklich stark überarbeitete Zeichnung des Meisters. Die Köpfe der Putti im Hintergrund könnten von seiner Hand stammen, die Weißhöhung, aber sicher auch große Teile der Federarbeit sind von einer anderen Hand.“

Auch die Zuschreibung der bislang in der Forschung kaum berücksichtigten Schiefertafel an Vasari, die vor allem auf ihrer Identifizierung mit dem „quadro in pietra“ des Ricordo 161 beruht, ist aus stilistischen Gründen angezweifelt worden.[10] Dagegen ist die Zuschreibung der Kasseler Skizze mit ihren charakteristischen Abbreviaturen etwa bei den Köpfen an Vasari nach Florian Härb stilistisch unstrittig. Sie hatte sich bereits durch die Ähnlichkeit der Christusgestalt mit der Entwurfszeichnung des Louvre angedeutet.

Fassen wir die Fakten noch einmal zusammen: Wir wissen durch Vasaris Ricordo, dass er sich mit dem Thema „Christus im Hause von Martha“ auch auf kleinem Format, auf einer Schiefertafel auseinandergesetzt hat. Weiter wissen wir, dass er eine kleinformatige Skizze zu diesem Thema angefertigt hat, nämlich das Kasseler Blatt, wo er sich – ikonographisch ungewöhnlich – auf die drei Hauptpersonen des Geschehen, auf Christus, Martha und Maria, konzentriert und alle in einem Gespräch vereint, ohne die beiden Schwestern als Gegensatzpaare voneinander abzuheben. Ungewöhnlich an dieser Skizze ist auch die nischenförmige Architektur, in der die Szene sich abspielt. Sie lässt zunächst daran denken, dass die Zeichnung als Entwurf für eine Wandmalerei gedacht war und sich auf eine spezifische räumliche Situation bezieht.

Liest man das Ricordo Vasaris noch einmal gründlich, so fällt auf, dass er bei der Benennung des Themas seines Tafelbildes nicht zwischen den beiden Schwestern differenziert, wie in dem Ricordo 98 vom 2. Februar 1539,[11] das sich auf die Ausstattung von S. Michele in Bosco bezieht. Dort spricht er von einer Darstellung „Quando X° (Cristo) amaestra la Madalena, et Marja aparechja“. Hier berichtet er dagegen von einer Tafel in Stein, „quando Cristo amaestra Marta et Madalena“. Diesem Titel entspricht die ungewöhnliche Darstellung, die auf die gegensätzliche Schilderung der Schwestern als Sinnbild der Vita activa oder contemplativa verzichtet. In Italien scheint das Thema der gemeinsamen Belehrung der beiden Schwestern gelegentlich dargestellt worden zu sein. So steht Christus auf einem Gemälde von Girolami da Carpi (1501–1556/57) und Biagio Pupini (um 1511–1575) in den Uffizien an einem Katheder, während Maria und Martha vor ihm knien.[12]

Die Formulierung des Ricordo 161 unterstützt die These, dass die Kasseler Skizze und die Schiefertafel eine Beziehung zu dem dort erwähnten „quadro“ haben. Doch wie genau sieht diese Beziehung aus? Auf dem jetzigen Kenntnisstand kann darüber nur spekuliert werden. Vonnöten wäre zunächst eine erneute stilkritische Untersuchung der Schiefertafel aus der Sammlung Ickforth, um zu klären, ob ihr Urheber wirklich Vasari war, was ihre Identifizierung mit dem „quadro“ des Ricordo nahelegen würde. Sollte die Tafel aber einer anderen Hand zuzuschreiben sein, dann wären sie und die Kasseler Skizze vermutlich auf ein gemeinsames, heute verlorenes Werk zurückzuführen, zu der die Skizze eine erste Idee geliefert hätte. Unabhängig von diesen offenen Fragen belegt die Kasseler Skizze Vasaris intensive Auseinandersetzung mit diesem Thema und seinen Sinn für originelle ikonographische Gestaltungen tradierter Themen.

[1] Vgl. auch im Folgenden Wagner-Douglas 1999.

[2] Corti 1989, Nr. 11.

[3] Schwarze Kreide, Feder in Braun, braun laviert, 30 x 19,7 cm, Paris, Musée du Louvre, Inv. Nr. RF 92 (Monbeig-Goguel 1972, Nr. 190; Kat. Paris 2001, Nr. 34).

[4] Öl auf Schiefer, 28,5 x 36 cm, 1992 auktioniert (Auktionskat. Sotheby’s London 9.12.1992, Nr. 12), heutiger Aufbewahrungsort unbekannt (Pillsbury 1970).

[5] Frey 1923–1940, Bd. 2, S. 864.

[6] Schwarze Kreide, Feder in Braun, braun laviert und weiß gehöht, 17,8 x 23,4 cm, Chatsworth, Devonshire Collection, Inv. Nr. 647 (Jaffé 1994, Nr. 108).

[7] Feder in Braun, laviert auf braun präpariertem Papier, 18,2 x 23 cm, ehemals Sir Robert Mond Collection, heutiger Aufbewahrungsort unbekannt (Borenius/Wittkower o. J. [1937], Nr. 235).

[8] Le Blanc, Nr. 10; Jaffé 1994, Abb. S. 138.

[9] Jaffé 1994, Nr. 108. Schriftliche Mitteilung von Florian Härb vom 17.01.2006. Florian Härb, dem herzlich für seine Auskünfte gedankt sei, bereitet den Gesamtkatalog der Vasari-Zeichnungen vor.

[10] Vgl. dazu Corti 1989, Nr. 44: „L’attribuzione non risulta del tutto convincente per certe durezze e la bloccata ripetizione della ‚notte alluminata‘.“ Selbst Pillsbury (1970, S. 97) betont, dass die Tafel für Vasari ungewöhnlich sei. „Stilistically the Ickworth painting is unusual for Vasari. The coloring and figure style are inspired from Roman sources. […] It should come to no surprise that Padre Resta’s attribution of the Chatsworth drawing was to Salmeggia, an imitator of Raphael.“

[11]

[12] Florenz, Uffizien (Candey 1970, Abb. 33).

Veröffentlicht am 06.09.2008

Letzte Aktualisierung am 31.03.2009

Abb. 1

Abb. 1

Giorgio Vasari

Paris, Musée du Louvre, Inv.Nr. Inv. Nr. RF 92

© bpk / RMN / Paris, Musée du Louvre, D. A. G. / Thierry Le Mage

Veröffentlicht am 10.09.2008

Letzte Aktualisierung am 31.03.2009

Abb. 2

Abb. 2

Giorgio Vasari

Standort unbekannt; Auktionskat. Sotheby's London 9.12.1992, Inv.Nr. Nr. 12

Foto: Sotheby’s Picture Library, London

Veröffentlicht am 05.02.2009

Letzte Aktualisierung am 13.08.2009

Abb. 3

Abb. 3

Giorgio Vasari

Chatsworth, Devonshire Collection, Inv.Nr. Inv. Nr. 647

Foto: Courtauld Institute of Art, London

Veröffentlicht am 05.02.2009

Letzte Aktualisierung am 31.03.2009

Abb. 1


Abb. 2


Abb. 3