Paolo Veronese

(Verona 1528 – Venedig 1588)

Figürliche und architektonische Studien, um 1580

Graphit, Feder in Braun, braun laviert auf Papier, alt montiert, 32,5 x 22,5 cm (alle Ecken fehlen)

In der Darstellung mit brauner Feder vom Künstler bez.: aristide / Capitano / Tasso [?]; rückseitig unten mittig wegen der Kaschierung nicht lesbare Bezeichnung

Provenienz:

Giacomo Conte Durazzo, Genua; Else Lueder, Celle

GS 1121

Literatur:

Oehler 1953, Abb. 1; Degenhart 1955, S. 207; Cocke 1973, S. 143, Abb. 10; Schweikhart 1974, S. 250, Abb. 179; Pignatti 1976, Nr. AS 357, A 358, Abb. 1033; Oehler 1979, S. 9; Cocke 1984, S. 215, 218, Anm. 3, 231, Nr. 91, Abb. 91; Coutts 1986, S. 403, Nr. 91; Cocke 1988, S. 489, Abb. 91; Kat. Venedig 1988, S. 77–78, Nr. 40, Abb. 40; Kat. Tokyo 1998, Nr. D-3 mit Abb.; Kat. Kassel 2000, S. 30, Nr. 7, Abb. S. 31; Kat. Paris 2004, S. 146, Nr. 32, Abb. S. 147

Auf dieser komplexen, schwer zu deutenden Federzeichnung konfrontiert Veronese den Betrachter mit einer verwirrenden Fülle und Vielfalt an architektonischen und figürlichen Einfällen, die sich nahezu flächendeckend über das gesamte Blatt erstrecken. Der zeichnerische Prozess und die Abfolge, in dem das Blatt entstand, ist nur schwer anhand der Überschneidungen einzelner Bildmotive nachzuvollziehen. Die Abfolge könnte aber Auskunft darüber geben, welche Skizzen inhaltlich zusammengehören. Betrachtet man das Blatt unter diesem Gesichtspunkt genauer, so spricht vieles dafür, dass Veronese die architektonischen Skizzen am unteren rechten Blattrand mit dem angeschnittenen Bogenmotiv mit dem gesprengten Giebel begann. Von dort aus breiten sich die verschachtelten Architekturmotive diagonal bis in die obere linke Blatthälfte aus. Da die einzelnen Motive genau ineinandergepasst wurden, also keine Überschneidungen aufweisen, wird Veronese nach und nach die Lücken gefüllt haben, bis die einzelnen Skizzen zu dem phantastischen Konglomerat aus Campanile, Tempelfronten, Brücken, Bögen und Rundbauten zusammengewuchert waren. Zwar begegnen viele der hier gezeigten Motive in seinen Gemälden in ähnlicher Form wieder, die Vielfalt der architektonischen Formen und ihre zufällig anmutende Anordnung sprechen jedoch dafür, dass der Zeichner hier seinen Motivschatz erproben wollte und nicht die Vorbereitung eines bestimmten Gemäldes im Auge hatte.

Weitere Hinweise auf die zeitliche Abfolge des Zeichenprozesses geben die figürlichen Skizzen, die zum großen Teil von den Architekturmotiven ausgespart wurden, diese also nur ausnahmsweise überschneiden. Aufgrund dieses Befundes ist anzunehmen, dass die untere Figurenreihe, die ringenden Männer darüber, die beiden Pferde und die dreimal wiederholte, nur schwer zu deutende Figurengruppe links neben den Pferden bereits vorhanden waren, als Veronese mit den Architekturskizzen begann. Die Dreiergruppe rechts unten und der Schreitende links darüber wurden dagegen über die Architektur gezeichnet und deshalb vermutlich später hinzugefügt. Auch die Kanonen mit der zweimal erprobten knienden Figur links oben scheinen bereits vorhanden gewesen zu sein, als das Architekturmotiv am linken Blattrand ergänzt wurde. Für einzelne dieser Figurengruppen scheint Veronese separate Bildräume anzudeuten wie den Raum mit den vertikalen Schraffuren, der die beiden Ringenden hinterfängt. Auch die rechteckige Lavierung, die auf dem gesprengtem Giebel eingezeichnet wurde, scheint sich weniger auf diesen als auf die Figuren darunter zu beziehen.

Doch was hat Veronese überhaupt dargestellt? Wie sind die unterschiedlichen Figurengruppen inhaltlich zu deuten? Lassen sich viele der Federzeichnungen von Veronese eindeutig mit bestimmten Gemälden verbinden, deren Figurenkonstellationen sie trotz ihrer Skizzenhaftigkeit außerordentlich präzise vorbereiten, so ist der Fall hier komplizierter. Zwar hat die Forschung immer wieder Gemälde und auch Zeichnungen herangezogen, mit denen einzelne der figürlichen Skizzen in Zusammenhang stehen sollen, diese Verbindungen sind jedoch nicht immer überzeugend und beziehen sich nur auf Details.

So sollen sich etwa die mehrfach dargestellte Kanone und die einzige figürliche Skizze in der oberen Blatthälfte, die zweimal wiederholte kniende Gestalt, nach Richard Cocke[1] auf die „Einnahme von Smyrna“[2] beziehen, ein Deckengemälde in der Sala del Maggior Consiglio des Dogenpalastes, für das Veronese 1578 den Auftrag erhalten hatte. Im Hintergrund zeigt dieses Gemälde eine in ähnlicher Haltung vor einer Kanone kniende Gestalt. Die beiden Pferde darunter verbindet Cocke mit einem zweiten Deckengemälde desselben Saales, mit der „Verteidigung von Scutari“[3]. Allerdings sind die Übereinstimmungen in diesem Fall noch vager und beziehen sich auch nicht auf die ausgeführte Version des Gemäldes, sondern auf eine Zeichnung in Oxford,[4] die dieses Gemälde detailliert vorbereitet. Dort taucht das sich aufbäumende Pferd in vergleichbarer Haltung, aber ohne Pferdebändiger wieder auf. Auch die untere Figurenreihe, in der Veronese in bewährter Manier höchst differenziert mit wenigen Strichen die Beziehungen der einzelnen Figuren untereinander festlegt, konnte bislang noch nicht überzeugend auf ein ausgeführtes Gemälde bezogen werden. Die konstatierten Übereinstimmungen zu dem Gemälde „Der Doge Ziani huldigt dem als Mönch verkleideten Papst Alexander III.“[5] in der Sala del Maggior Consiglio, das von den Heredes Pauli nach Entwürfen Veroneses fertiggestellt wurde, sowie zu zwei Zeichnungen in München[6] und in Wien[7], die dieses Gemälde vorbereiten, sind m. E. nicht überzeugend, da die auf der Kasseler Skizze dargestellten Männer behelmt sind und deshalb ein anderes Thema nahelegen.

Die Kasseler Zeichnung gibt der Forschung also nach wie vor in vielerlei Hinsicht Rätsel auf. So konnte bislang auch die Bedeutung der Bezeichnungen „Aristide“ und „Capitano“ nicht eindeutig geklärt werden.[8] Ähnlich wie bei den Architekturmotiven könnte Veronese auch bei den figürlichen Szenen weniger bestimmte Aufträge im Blick gehabt, als vielmehr spielerisch in rascher, assoziativer Abfolge verschiedene Themen erprobt haben. Dabei scheinen auch Eindrücke aus seiner unmittelbaren Umgebung eingeflossen zu sein, wie der Hund nahelegt, der links neben den beiden Pferden seinen Kopf auf die Pfoten gelegt hat.[9]

[1] Cocke 1973, S. 143; Cocke 1984, S. 231.

[2] Wolters 1983, S. 197f., Abb. 196; Sinding-Larsen 1990.

[3] Wolters 1983, S. 197f., Abb. 197.

[4] Feder in Braun, braun laviert, 12,3 x 21,5 cm, Oxford, Ashmolean Museum, Inv. Nr. P2 742 (Cocke 1984, Nr. 90).

[5] Wolters 1983, S. 174, Abb. 167; Cocke 1973, S. 143.

[6] Feder in Braun, stellenweise braun laviert, 30,2 x 20,8 cm, München, Staatliche Graphische Sammlung, Inv. Nr. 1951.63 (Cocke 1984, Nr. 93 mit Abb.).

[7] Feder in Braun, braun laviert, 29,8 x 21,7 cm, Wien, Albertina, Inv. 44718 (Cocke 1984, Nr. 92 mit Abb.).

[8] Vgl. dazu Kat. Kassel 2000, S. 30.

[9] Bei Rearick (Kat. Venedig 1988, Nr. 40) wird aus dem Hund der venezianische Löwe und die Figurengruppe darüber soll sich auf die New Yorker Studie einer thronenden Venezia beziehen (Cocke 1984, Nr. 82).

Veröffentlicht am 10.09.2008

Letzte Aktualisierung am 10.03.2009