Umkreis Giovanni Francesco Barbieri, gen. il Guercino

(Cento 1591 – Bologna 1666)

Figurenstudie, 2. Hälfte 17. Jh.

Rötel auf Papier, 8,4 x 12 cm

Unten rechts mit brauner Feder bez.: Guerchin

Provenienz:

Nachlass Erich Herzog, Kassel

GS 17436

Literatur:

unpubliziert

Die kleinformatige Figurenstudie in Rötel mit der alten Zuschreibung an Guercino zeichnet sich durch eine subtile Schilderung der beiden als Halbfiguren dargestellten Personen und ihrer Beziehung zueinander aus. Der bärtige Alte im Vollprofil mit einer bäuerlich anmutenden Kappe auf dem Kopf ist in einen schweren Mantel gehüllt, den er sich faltenreich unter den linken Arm geklemmt hat. Die Hand scheint einen Sack zu halten. Dicht neben ihm steht ein junger Mann. Der Junge wendet sein Gesicht dem Alten zu, blickt aber aus den Augenwinkeln erwartungsvoll in die Richtung, in die der Alte schreitet. Was sein Ziel ist, bleibt dem Betrachter verborgen – und damit auch der erzählerische Zusammenhang, in dem die beiden Figuren stehen. Am ehesten wären sie als Hirten bei einer „Anbetung“ vorstellbar.

Die strenge Profildarstellung des alten Mannes zeigt Entschlossenheit und Zielstrebigkeit. Sein Begleiter, dessen junges, noch unbeschriebenes Gesicht sich deutlich von dem vom Leben gezeichneten des Alten abhebt, drückt angespannte Erwartung, aber auch Verbundenheit mit seinem Gegenüber aus. Zu der gelungenen Charakterisierung der Personen trägt auch die Beleuchtung bei. Während das Gesicht des Alten hell angestrahlt wird und dadurch einen lebendigen Glanz erhält, liegt der Kopf des Jüngeren im Halbdunkel.

Von Guercino, in dessen unmittelbarem Umfeld die Studie entstanden ist, haben sich zahlreiche Figurenstudien in Feder oder Rötel, als Ganz- oder Halbfigur, Büste oder Kopfstudie, einzeln oder zu Gruppen zusammengestellt erhalten, die der Vorbereitung seiner Gemälde dienten und seine intensive Auseinandersetzung mit den Protagonisten seiner Historienbilder bezeugen. Darüber hinaus bilden seine figürlichen Studien einen reichen Fundus an Motiven, Posen und Ideen, auf die der Maler und seine Werkstattmitarbeiter zurückgreifen konnten.

Nicholas Turner hat betont, dass Guercino in der Regel keine Ausführungsentwürfe für seine Gemälde anfertigte, sondern diese kompilatorisch aus verschiedenen Studien und Vorlagen zusammenfügte. Im Rahmen dieses „Motiv-Recycling“[1] können einzelne Vorlagen durchaus mehrfach und in unterschiedlichsten Zusammenhängen auftauchen. Der Typus des alten Mannes mit Vollbart, Hakennase und strengem Gesichtsausdruck, wie ihn die kleinformatige Kasseler Rötelzeichnung zeigt, begegnet denn auch häufiger in Figurenstudien wie in Gemälden Guercinos, ohne dass eine direkte Beziehung der Kasseler Skizze zu einem bestimmten Werk festzustellen ist. Am meisten Übereinstimmung zeigt der Kasseler Profilkopf mit einer gleichfalls kleinformatigen Rötelzeichnung in der Sammlung Gadola, die dasselbe Gesicht, jedoch mit anderer Kopfbedeckung und als Einzelfigur bis zur Schulter wiedergibt. Das Blatt war ehemals dem Neffen und Erben Guercinos, Benedetto Gennari, zugeschrieben, wurde kürzlich aber von Michael Matile dem Meister selbst zugewiesen.[2] Eine lavierte Federzeichnung des Louvre[3] zeigt den Bärtigen als Halbfigur mit pelzgefütterter Kappe erneut in szenischem, wenn auch schwer deutbarem Zusammenhang. Ähnlich wie auf der Kasseler Zeichnung ist er in einen Mantel gehüllt, der faltenreich unter seinem Arm hindurchgeführt ist. Er beugt sich leicht nach vorne. Die vor ihm nur äußerst skizzenhaft angedeutete Figur wird als Engel und die Darstellung insgesamt als Studie zu einer Anbetung der Hirten gedeutet. Es ist anzunehmen, dass für all diese Blätter auf ein und dasselbe Modell zurückgegriffen wurde, das man je nach Zusammenhang anders ausstaffierte. In den Gemälden von Guercino und seinem Umkreis taucht der Alte gleichfalls sehr häufig und über einen langen Zeitraum auf.[4]

Aufgrund der engen Beziehung der Kasseler Studie zu verschiedenen Werken von Guercino und wegen der starken stilistischen Orientierung an dessen Zeichenweise wird die Studie von einem der Neffen und Erben Guercinos, von Benedetto (1633–1715) oder Cesare Gennari (1637–1688), angefertigt worden sein. Sie übernahmen nach seinem Tod die Werkstatt mitsamt seiner künstlerischen Hinterlassenschaft und haben in seinem Stil und mit seinem Motivvorrat weitergearbeitet. Die Händescheidung zwischen den beiden Neffen sind ausgesprochen schwierig. Nicolas Turner, Tilbury-juxta-Clare, hat für die Kasseler Skizze aufgrund der sparsamen Linienführung und der spannungsreichen Figurenanordnung Cesare Gennari als Zeichner vorgeschlagen.[5] Eine signierte und ins Jahr 1679 datierte Studie in Bologna[6] zeigt nicht nur eine vergleichbare Figurenkonstellation, sondern stimmt auch in der lockeren Strichführung und in der Behandlung von Licht und Schatten etwa beim Bart des Alten überein.

[1] Turner 1991, S. 346.

[2] Bärtiger Alter mit Hut, Rötel, 9,5 x 12,2 cm (Kat. Zürich 2004, Nr. 40).

[3] Schwarze Kreide, Feder in Braun, braun laviert, 12,8 x 21,1 cm, Paris, Musée du Louvre, Inv. Nr. 6955 <http://arts-graphiques.louvre.fr> (07.09.2008).

[4] Vgl. z. B.: Erminia bei dem Hirten, um 1619/20, Birmingham Museum and Art Gallery (Salerno 1988, Nr. 61); Die Rückkehr des verlorenen Sohnes, um 1627/28, Rom, Galleria Borghese (Salerno 1988, Nr. 120); Abraham verstößt Hagar und Ismael, 1658, Mailand, Pinacoteca di Brera (Salerno 1988, Nr. 327).

[5] Freundliche Auskunft vom 02.06.2008.

[6] Alter mit Turban und Engel, Rötel, 14,5 x 20 cm, auf der Rückseite bez:: Cesare Zenari f. 11. Nov. 1679, Bologna, Pinacoteca Nazionale di Bologna, Inv. Nr. 1710.

Veröffentlicht am 06.09.2008

Letzte Aktualisierung am 10.03.2009