Ottavio Leoni

(Rom um 1578 – Rom 1630)

Bildnis der Innocentia, 1623 oder 1630

Schwarze, rote, ockergelbe und weiße Kreide auf blauem Papier, 22,1 x 16,8 cm

Unten links mit brauner Feder bez.: [schwer lesbar] 256 / Agosto; mittig: 1623 / 1630 [durchgestrichen]; rückseitig oben mit rotem Stift: O. 419 [?]; mittig: G. 448 / [unleserlich]; oben links mit blauem Stift: 663

Provenienz:

Nachlass Erich Herzog, Kassel

GS 17113

Literatur:

Kat. Kassel 2000, S. 48, Nr. 16, Abb. S. 49

Das qualitätvolle Bildnis einer vornehm gekleideten jungen Frau ist zweifelsfrei dem begehrten römischen Portraitisten Ottavio Leoni oder seinem unmittelbaren Umfeld zuzuschreiben. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hielt Leoni die Spitzen der römischen Gesellschaft wie die Mitglieder der Familien Borghese oder Cesi, Päpste und Kardinäle, seine Künstlerkollegen sowie diverse „dame illustre“[1] in Gemälden und Hunderten von Kreidezeichnungen fest. Seit 1615 datierte er seine Portraitzeichnungen. Zusätzlich versah er sie unten links mit der Monatsangabe und einer fortlaufenden Nummer, so dass seine stilistische Entwicklung ungewöhnlich gut nachzuvollziehen ist.[2] Den Bildnistypus variierte er dabei kaum. Wie bei dem Kasseler Exemplar handelt es sich in der Regel um Halbfigurenportraits in leichter Schrägansicht. Die Hauptaufmerksamkeit des Künstlers galt dem Gesicht. Die Kleidung der Portraitierten deutete er häufig nur flüchtig an. Die von Leoni bevorzugte Technik der Kreidezeichnung à trois crayons – mit schwarzer, roter und weißer Kreide – auf farbigem Papier ermöglicht durch den samtigen Charakter der Kreide eine besonders lebendige Wiedergabe der Inkarnate. Diese Lebendigkeit der zumeist rasch – alla macchia – vor dem Modell ausgeführten Zeichnungen hob bereits der Biograph Leonis, Giovanni Baglione, lobend hervor.[3] Wie häufiger bei seinen Frauenportraits kommt bei der Kasseler Zeichnung für die Haare noch ein vierter – ockerfarbener – Stift zum Einsatz. Die Dargestellte konnte bislang noch nicht identifiziert werden. Einen Hinweis auf ihren Vornamen gibt möglicherweise eine zweite Version des Portraits in Washington[4] (Abb. 1). Denn das dortige Blatt ist neben der Datierung und der Nummerierung, die mit dem Kasseler Blatt übereinstimmen, am unteren Bildrand mit der Bezeichnung „innocentia alias Censia“ versehen.

Die Beschriftungen auf den Zeichnungen von Leoni sind bislang noch nicht grundlegend untersucht worden.[5] Während die Bezeichnungen auf dem Washingtoner Blatt klar erkennbar sind und von ein und derselben Tinte zu stammen scheinen, ist die Bezeichnung in der linken Ecke des Kasseler Exemplars stark verblichen. Möglicherweise wurde mutwillig versucht, die Beschriftung zu entfernen. Vor dem Original ist die Nummer „265“ dennoch eindeutig erkennbar. Rechts davon sind noch schemenhaft einige Tintenspuren sichtbar, die darauf hinweisen, dass hier ursprünglich noch ein Zusatz – vielleicht ebenfalls der Vorname? – stand, der jedoch nicht mehr lesbar ist.

Ein ähnlicher Befund zeigt sich bei der Portraitzeichnung, die der Kasseler unmittelbar vorausging, einem Bildnis des Kardinals Dietrichstein vom Juli 1623 mit der Nr. 264.[6] Dort befindet sich am unteren Blattrand eine Beschriftung, die teilweise getilgt wurde. Auch auf diesem Blatt ist die Tinte insgesamt verblasst und nicht mehr so deutlich erkennbar wie auf dem Washingtoner Blatt. Weiter wurde in der Kasseler Zeichnung – aus welchen Gründen auch immer – unter der Jahreszahl „1623“ mit anderer Tinte und von anderer Hand „1630“ hinzugefügt, das Jahr, in dem Leoni verstarb.

Etliche Zeichnungen von Leoni sind in zwei Exemplaren überliefert, von denen das eine weniger detailliert ausgearbeitet und unnummeriert ist, während das andere die Jahreszahl und die fortlaufende Nummerierung aufweist.[7] Vergleichsbeispiele für das Kassel-Washingtoner Paar, wo zwar auch das eine Blatt, nämlich das Kasseler, stärker ausgearbeitet ist als das andere, beide jedoch dieselbe Nummerierung aufweisen, sind mir dagegen bislang noch nicht begegnet.

Wie ist dieser Befund zu deuten? Handelt es sich bei einem Blatt um eine Kopie des anderen oder stammen beide Zeichnungen aus der Hand Leonis, und nur die Beschriftung des Washingtoner Blattes wurde später, möglicherweise von Ottavios Stiefsohn und Erben Ippolito, hinzugefügt, wofür die Klarheit der Schrift spricht? Oder könnte die Kasseler Zeichnung eine Wiederholung der Washingtoner sein, die Leoni 1630, kurz vor seinem Tod, anfertigte und entsprechend mit einem zweiten Datum versah? Möglicherweise bezieht sich diese Jahreszahl aber auch auf den Erwerb des Blattes und wurde nicht vom Künstler oder von seinem Erben, sondern von dem Käufer hinzugefügt. Ohne ein grundlegendes Werkverzeichnis der Bildniszeichnungen Leonis wird die Beziehung der beiden Blätter zueinander nicht zu klären zu sein.

[1] Manilli (1650, S. 110f.) erwähnt diverse Damenportraits im Besitz der Borghese: „Il resto de’ quadri, cinquantadue di numero, son ritratti di Dame, principali di Roma, e d’altre Città d’Italia, fatti parte da Scipion Gaetano, parte del Padouanino.“ Vgl. auch Montelatici 1700, S. 303: „Quello però, che arreca maggior ornamento à questa Camera, e il vederui appesi d’ogn’intorno sessanta due quadri, retratti tutti di Dame illustri, altri coloriti dal Padouanino, & altri da Scipion Gaetano, ne i quali si rauuisa la varietà degl’abiti, che si costumauano nelli tampi passati.“ Zu dem Leoni-Bestand der Borghese vgl. Robbin 1996.

[2] Ein Werkverzeichnis seiner Zeichnungen liegt noch nicht vor. Auch wurden die bekannten Zeichnungen bislang nur ansatzweise nach ihrer Nummerierung geordnet und die unnummerierten Exemplare systematisch zusammengestellt. Vgl. dazu etwa Spike 1984/1985, S. 17–19.

[3] Baglione 1924, S. 321.

[4] Schwarze, weiße, rote und ockerfarbene Kreide auf blauem Papier, auf Papier des 18. Jh. kaschiert, 22,8 x 16 cm, unten links bezeichnet: „265/Agosto“; mittig „1623/Innocentia alias Censia“, Washington, National Gallery of Art, Inv. Nr. 1977.33.1 (Kat. Amsterdam 1969, Nr. 30; Kat. Florenz 1970, Nr. 28).

[5] Zu den Beschriftungen vgl. Spike 1984/1985, S. 15.

[6] Schwarze, rote und weiße Kreide auf blauem Papier, 23,8 x 16,5 cm, Kunstsammlungen zu Weimar, Graphische Sammlung, Inv. Nr. KK 8752 (Kat. Weimar 1999, Nr. 112 mit Abb.).

[7] Zahlreiche Beispiele sind aufgeführt bei Kruft 1969.

Veröffentlicht am 08.09.2008

Letzte Aktualisierung am 11.09.2008

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Rückseite GS 17113

Abb. 1

Abb. 1

Ottavio Leoni

Washington, National Gallery of Art, Inv.Nr. Inv. Nr. 1977.33.1

Foto: Dean Beasom

Veröffentlicht am 21.01.2009

Letzte Aktualisierung am 10.02.2009

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Abb. 1