Unbekannt


Allegorie der Stärke und Gerechtigkeit; rückseitig Kupferstich von Dietrich Krüger (um 1575–1624) nach Andrea del Sarto (1486–1530), um 1640

Feder in Braun, Rötel auf gebräuntem Papier, 28,5 x 18,9 cm

Unten links mit brauner Feder bez.: Pro Forzam [?] et giustiziam

Provenienz:

Nachlass Erich Herzog, Kassel

GS 18171

Literatur:

unpubliziert

Die beiden Rötelzeichnungen zeigen Tugendallegorien, die als Standfiguren formatfüllend auf dem Papier positioniert wurden. Prudentia, die Weisheit, steht im klassischen Kontrapost. Unter ihrem langen, gegürteten Gewand zeichnen sich deutlich das linke gestreckte Stand- und das leicht angewinkelte rechte Spielbein ab. Mit ihrer rechten Hand hält Prudentia einen Spiegel empor, in den sie prüfend blickt. Bei der Haltung ihres linken Arms stellte der Zeichner zwei Varianten vor, einmal ausgestreckt, das andere Mal angewinkelt mit einem auf der Hüfte abgestützten Buch in der Hand. Zu Füßen der Figur windet sich eine Schlange unter dem Gewandsaum hervor. Spiegel, Schlange und Buch gehören seit dem Spätmittelalter zu den Attributen, mit denen Prudentia am häufigsten dargestellt wurde.[1]

Der Zeichner hat die Figur zunächst mit feinen, kaum noch sichtbaren Rötelstrichen umrissen und anschließend mit kräftigen, unruhigen, immer wieder von neuem ansetzenden Strichen den Fluss der Gewänder festgehalten. Faltenreich schwingt sich ein Mantel unter dem rechten Arm der Figur hervor über den Unterleib bis zur linken Schulter. In dieser Partie scheint sich der Zeichner noch sehr unsicher gewesen zu sein. Nicht nur bei dem Verlauf der Arme legte er sich noch nicht fest, er korrigierte auch mehrfach den Verlauf der Falten bis zu einem kaum noch lesbaren Liniengefüge. Es scheint sich demnach um eine erste Ideenskizze zu handeln, die noch der genauen Ausarbeitung bedurfte.
Schwer zu deuten ist die Bezeichnung „Aqua virginitoris [...]“. Bezieht sie sich auf die Aqua Virgo oder Acqua Vergine, einen der elf Aquädukte, welcher die Stadt Rom in der Antike mit Wasser versorgten?[2]

Das zweite der beiden Blätter weicht in der Technik von dem ersten ab. Handelte es sich dort um eine reine Rötelzeichnung, so wurde hier die Figur zunächst mit dem Pinsel in Graubraun angelegt und anschließend mit Rötel übergangen. Dabei sind zahlreiche Korrekturen zu verzeichnen.

Zunächst scheint die Figur als Fortitudo – Tapferkeit – konzipiert gewesen zu sein. Darauf weist die abgebrochene Säule hin, die bereits in der Vorzeichnung angelegt war. In Anlehnung an Samson, der den Tempel der Philister zum Einsturz brachte, indem er zwei Säulen zerbrach, taucht ein Säulenfragment häufig als Attribut der Fortitudo auf.[3] Hier stützt sich die Figur mit ihrem linken Arm auf dem Säulenschaft ab. Als Ergänzung wurde ihr nachträglich in Rötel eine Waage in die Hand gegeben, wodurch die Fortitudo in eine Justitia umgewandelt wurde.
Die ursprüngliche Haltung der rechten Hand ist nicht mehr zu erkennen. Rätselhaft sind auch mehrere Pinselstriche, die in Höhe der Hüfte emporragen sowie links der Figur unter der Vase noch erkennbar sind. Der korrigierte ausgestreckte Arm trägt das zweite Attribut Justitias, das Schwert.

Während die Vorzeichnung denselben nervösen Duktus aufweist wie die Rötelzeichnung der Prudentia, wirkt die Führung der Rötel bei der Justitia ruhiger und ausgeglichener. Auch erscheint die Figur insgesamt kompakter und geschlossener. Dies könnte dafür sprechen, dass die Korrekturen von einer anderen Hand ausgeführt wurden.

Wofür könnten die beiden Zeichnungen gedacht gewesen sein? Tugendfolgen tauchen in der nachmittelalterlichen Kunst außer in der Druckgraphik vor allem bei Grabmälern auf, wo sie häufig als Standfiguren den Sarkophag des Verstorbenen flankieren. Für römische Kirchen sind zahlreiche Beispiele für diesen Grabmaltypus bezeugt. Die Monumentalität der Figuren, ihre genau beobachteten Standmotive und die Konzentration auf die Gewandführung legen nahe, dass es sich um erste Ideenskizzen für Skulpturen handelt.

Beide Zeichnungen wurden nicht auf blankem Papier ausgeführt, sondern auf der Rückseite von Kupferstichen, die der deutsche, aber lange in Italien tätige Stecher Dietrich Krüger (um 1575–1624) nach den Fresken des Chiostro dello Scalzo von Andrea del Sarto in Florenz anfertigte.[4] Zu diesem Freskenzyklus gehörten auch die vier Kardinaltugenden. Die Stiche der Spes und der Caritas befinden sich auf dem Verso der beiden Zeichnungen.

Der thematische Zusammenhang von Stichen und Zeichnungen spricht dafür, dass sich der Zeichner, bevor er an die Entwurfsarbeit ging, über vorbildliche frühere Darstellungen informiert hat. Möglicherweise gehörten die Stiche zum Vorlagenmaterial seiner Werkstatt. Vergleicht man die Stichfolge noch einmal genauer mit den beiden Zeichnungen, so fallen bei dem Standmotiv der Justitia Übereinstimmungen mit der entsprechenden Allegorie von Andrea del Sarto auf: Beide Figuren haben ihren linken Fuß auf einen Sockel aufgestellt und stehen in einer geschwungenen S-Linie im Kontrapost. Ähnlich ist auch die Führung des Mantels, der über die beiden Arme und den Unterkörper fällt. Bei dieser Figur ist durchaus vorstellbar, dass sich der Künstler von dem Kupferstich anregen ließ. Bei der Prudentia sind dagegen keine Übereinstimmungen feststellbar. Die Verwendung der beiden Stiche als Zeichenpapier ist ein beredtes Zeugnis für eine Funktion derartiger druckgraphischer Zyklen: den Künstlern Vorlagenmaterial zu liefern.

[1] Bautz 1999, S. 261–272.

[2] Der Ausfluss der Aqua Virgo wurde im 18. Jahrhundert mit dem berühmten Trevi-Brunnen versehen. Fehrenbach 2008, S. 227ff.

[3] Bautz 1999, S. 288.

[4] Hollstein VI, 51–54.

Veröffentlicht am 13.08.2012

Letzte Aktualisierung am 19.10.2012

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Rückseite GS 18171

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