Paolo de Matteis zugeschrieben

(Piano del Cilento 1662 – Neapel 1728)

Entführung Helenas, um 1690

Kohle, Pinsel in Braun und Grau auf Papier, 21,7 x 28,5 cm

Unten rechts mit Graphit bez.: 3; rückseitig oben rechts mit roter Feder: 943.; darunter mit brauner Feder: Sonenfeld [?]

Provenienz:

Christian Hammer (1818–1905), Stockholm (Lugt 1237); Nachlass Erich Herzog, Kassel

GS 17117

Literatur:

unpubliziert

Die Zeichnung, die von Erich Herzog aus unbekannten Gründen dem Veroneser Maler Giovanni Battista Marcola (um 1711 – um 1780) zugeschrieben wurde, hängt unmittelbar mit einem großformatigen Gemälde (Abb. 1) zusammen, das 2002 im Kunsthandel auftauchte und von Giovanni Scavizzi dem Frühwerk von Luca Giordano (1634–1705) zugewiesen wurde.[1] Gemälde und Zeichnung weichen nur geringfügig voneinander ab: So lässt etwa das Dekolleté Helenas in der Zeichnung verführerisch ihre Brust frei, während sie im Gemälde züchtig ein hochgezogenes Mieder mit einem Tuch darüber trägt. Der Wagen mit Helios, der in der Zeichnung vom Himmel aus das Geschehen beobachtet, scheint im Gemälde zu fehlen.[2]

Auf den ersten Blick fügt sich das Blatt problemlos in das ausgesprochen vielfältige, zuweilen desperate zeichnerische Oeuvre Giordanos ein.[3] Trotz der stilistischen Nähe und der engen Beziehung zu dem Gemälde hält Giuseppe Scavizzi die Kasseler Zeichnung dennoch nicht für eigenhändig, sondern für ein Werk des Giordano-Schülers Paolo de Matteis.[4]

Nach den biographischen Angaben von Bernardo De Dominici hat de Matteis häufiger Zeichnungen von Giordano (1634–1705) kopiert, die dieser während seines Romaufenthaltes nach Werken Raffaels (1483–1520) und anderer großer Meister angefertigt hatte. Um 1690 beschäftigte sich de Matteis vor allem mit mythologischen Themen, wobei er sich eng an Giordano anlehnte oder gar die Kompositionen ganz von ihm übernahm. Händescheidungen zwischen den beiden Malern sind dadurch häufig nur schwer möglich.[5]

Die Auffassung Scavizzis, bei der Kasseler Zeichnung handele es sich um eine Kopie nach dem Gemälde oder nach einer bislang nicht nachweisbaren Entwurfszeichnung von Giordano, unterstützt der Befund an der rechten Blattkante: Dort bricht das Gewand Helenas etwa 1 cm vor dem Blattrand unvermittelt ab und ein parallel zur Blattkante verlaufender Kreidestrich deutet das Ende des Bildfeldes an. Bei einer Entwurfszeichnung wäre dieser Übergang sicherlich weniger abrupt ausgefallen. Unklar ist, ob de Matteis die dem Gemälde zugrundeliegende Entwurfszeichnung oder das ausgeführte Gemälde kopiert und dabei geringfügig variiert hat. Eine eigenhändige Zeichnung von Giordano zu diesem Thema, die sich in New York erhalten hat, zeigt stärkere Abweichungen von dem Gemälde und ist nach Scavizzi später zu datieren.[6] Interessanterweise blickt sich Helena dort zögernd um, während sie im Gemälde entschlossen auf das Boot zuschreitet.

Ikonographisch lassen sich zwei Darstellungskonventionen des Themas unterscheiden: das eine Mal wird Helena mit Gewalt auf das Schiff geschleppt, das andere Mal willigt sie in ihre Entführung ein und flieht Hand in Hand mit Paris.[7] Giordano, der sich häufiger mit diesem Thema auseinandergesetzt hat, waren beide Darstellungskonventionen geläufig.[8]

Schon Scavizzi hat das Gemälde von Giordano mit einem gleichfalls großformatigen Bild verbunden, das sich nach Marcello Oretti im 18. Jahrhundert gemeinsam mit einem „Raub der Proserpina“ im Palazzo Ranuzzi in Bologna befunden haben soll.[9] In Kassel hat sich eine zweite in Stil, Format und Provenienz mit der „Entführung Helenas“ übereinstimmende Zeichnung erhalten, die ebendieses Thema zeigt (s. dazu GS 17109).

[1] Raub Helenas, um 1655, Öl auf Leinwand, 216 x 268 cm (Auktionskat. Sotheby’s London 10.7.2002, Nr. 66; Ferrari/Scavizzi 2003, Nr. A 071). Eine wenig qualitätvolle Kopie der Zeichnung, die dem Kasseler Blatt zugrunde liegt, wurde 2007 im Kunsthandel angeboten (Auktionskat. Galerie Gerda Bassenge 30.11.2007, lot 6409).

[2] Dies könnte jedoch auch auf den schlechten Erhaltungszustand des Gemäldes zurückzuführen sein.

[3] Vgl. etwa die „Allegorie des Ruhms“, um 1700, schwarze Kreide, braun laviert, 23,7 x 19,3 cm, Boston, Public Library (Scavizzi 1999/1, S. 127, Abb. 32).

[4] Briefliche Auskunft von Giuseppe Scavizzi vom 11.01.2006 zu den Kasseler Zeichnungen GS 17117 und GS 17109: „Sono molto simili a Giordano ma non sono suoi. Lo stile molto rapido, con un segno angolare ma elegante, e particolarmente simile allo stile dei disegni di Paolo De Matteis, del periodo in cui questo pittore era piu vicino al maestro (cioè intorno al 1690–1700).“ Ich danke Giuseppe Scavizzi für seine freundliche Unterstützung.

[5] Scavizzi 1999/2, S. 253.

[6] Schwarze Kreide, Feder in Braun, braun laviert, 19,9 x 26,7 cm, New York, Metropolitan Museum of Art, Inv. Nr. 1977-127 (Bean 1979, Nr. 228; Ferrari/Scavizzi 1992, Bd. 1, Nr. D 58).

[7] Zur Ikonographie vgl. Colantuono 1997.

[8] Zahlreiche Beispiele werden erwähnt in Kat. Wien 2001, Nr. 43.

[9] Ferrari/Scavizzi 1992, S. 389.

Veröffentlicht am 08.09.2008

Letzte Aktualisierung am 11.10.2012

Abb. 1

Abb. 1

Luca Giordano

Standort unbekannt; Sotheby’s London 10.7.2002, Inv.Nr. Nr. 66

Foto: Sotheby’s Picture Library, London

Veröffentlicht am 11.09.2008

Letzte Aktualisierung am 13.08.2009

Abb. 1