Einführung

Zur Sammlung

Bis ins Jahr 2000 gehörte gerade eine Handvoll italienischer Handzeichnungen zum Bestand der Graphischen Sammlung in Kassel. Die Landgrafen von Hessen-Kassel, auf die die Sammlung in ihren Ursprüngen zurückzuführen ist, hatten schwerpunktmäßig Druckgraphik gesammelt.[1] Die kleine Kollektion an Handzeichnungen, die zum überwiegenden Teil vermutlich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter Wilhelm IX. aus dem Nachlass des Architekten und Landschaftsmalers Johann Heinrich Müntz erworben wurde, konzentriert sich auf Künstler der Niederlande.[2] Die wenigen italienischen Zeichnungen, die nachweislich aus dem landgräflichen Kupferstichkabinett stammen, gelangten eher zufällig dorthin, etwa weil sie dem sogenannten Codex fol. 45 beigegeben waren, einem Sammelband mit Architekturnachzeichnungen überwiegend des 16. Jahrhunderts, den der spätere Landgraf Wilhelm VIII. 1721 von dem in hessischen Diensten stehenden Architekten Jacob Pietersz. Roman zum Geschenk erhielt.[3] Zwar konnten in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts aus Privatbesitz vier zweifelsohne Veronese zugeschriebene Federzeichnungen erworben werden, der Bestand an Italienern war aber insgesamt so marginal, dass die Erarbeitung eines Bestandskataloges fern gelegen hätte.

Diese Situation änderte sich erst 2001, als die Sammlung nach dem Tod von Prof. Erich Herzog (1917–2000) über 450 Blätter als Vermächtnis erhielt, darunter ein größeres Konvolut an italienischen Zeichnungen, das den Schwerpunkt der kleinen Kasseler Sammlung an Altmeisterzeichnungen von den Niederländern zu den Italienern verlagerte. Herzog, der von 1962 bis 1985 als Direktor den Staatlichen Kunstsammlungen Kassel vorstand, hat sich in dieser Zeit in besonderem Maße um die Graphische Sammlung verdient gemacht. In engem Austausch mit dem bedeutenden Frankfurter Kirchner-Sammler Karl-Heinz Gabler erweiterte er die Sammlung mit großem Engagement in die Moderne und tätigte vor allem im Bereich des deutschen Expressionismus, insbesondere der Brücke-Künstler, der informellen Kunst sowie der Abstraktion nach 1945 prominente Erwerbungen.[4] Als privater Sammler von Altmeisterzeichnungen ist Erich Herzog dagegen bislang kaum wahrgenommen worden.[5]

Das weite Spektrum, das seine Sammlung italienischer Handzeichnungen regional, zeitlich und in der Qualität bietet – von der Lombardei bis nach Neapel, vom späten 15. bis ins frühe 19. Jahrhundert, von der Fälschung bis zur Meisterzeichnung – sowie die überwiegend kleinen Formate der Zeichnungen, ihre häufig ungewöhnlichen Bildthemen und die zumeist unsichere Zuschreibung sprechen dafür, dass Herzog das erwarb, was auf dem Markt günstig zu erstehen war, auch wenn er vereinzelt für die damalige Zeit durchaus respektable Summen für ein einzelnes Blatt ausgeben konnte.

Leider hat Herzog nur in den wenigsten Fällen dokumentiert, wo er die Zeichnungen erstand. Vereinzelt fanden sich auf alten Passepartoutkartons Notizen über die Auktion sowie seine Vorschläge zur Zuschreibung der Neuerwerbung. Durch eine systematische Sichtung der Kataloge von Auktionshäusern wie Bassenge, Arno Winterberg oder Karl und Faber aus den 70er Jahren konnten einige Blätter nachgewiesen und die im Auktionskatalog vorgeschlagenen Zuschreibungen sowie die Angaben zur Provenienz berücksichtigt werden. Aufgrund der fehlenden Dokumentation und der nicht sachgemäßen Aufbewahrung der Zeichnungen, durch die etwa alte Passepartoutkartons mit Notizen nicht mehr den Zeichnungen zugeordnet werden konnten, ist jedoch viel Wissen unwiederbringlich verloren gegangen. Die enormen Qualitätsunterschiede der Zeichnungen sprechen dafür, dass Herzog auf Auktionen auch Konvolute erwarb. Eine Akzentsetzung lässt sich im Bereich der venezianischen Handzeichnungen des 16.–18. Jahrhunderts ausmachen.

Bei der Sammlung an Altmeisterzeichnungen, die Herzog privat zusammentrug, war von Anfang an klar, dass er sie einmal der Institution vermachen wollte, der er als Direktor so lange vorgestanden hatte. Es wird deshalb kein Zufall gewesen sein, dass er vor allem italienische Zeichnungen erworben hat, die in der Sammlung bislang nicht nennenswert vertreten waren. Vielmehr wollte er eine schmerzhafte Lücke schließen. Darum herum gruppieren sich Gelegenheitsfunde, wie zwei Kostümstudien des lothringischen Hofmalers Médard Chuppin († 1580), ehemals dem Umkreis von Archimboldo zugewiesen, zwei großformatige Landschaftszeichnungen von Carl Wilhelm d. Ä. Kolbe (1757–1835) und eine Ansicht des Dresdner Zwingers bei Nacht von Adolph Menzel (1815–1905), oder aber Zeichnungen und Druckgraphik, die Herzog von ihm bekannten Künstlern als Geschenk erhielt.

Zur Konzeption des Bestandskatalogs

In den letzten Jahren haben immer mehr große Graphische Sammlungen, wie das Cabinet des Dessins des Louvre, das Department of Prints and Drawings des British Museum oder die Western Art Drawings Collection des Ashmolean Museum in Oxford ihre Handzeichnungssammlungen mit digitalen Abbildungen und den technischen Daten ins Netz und damit der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Bei dem Kasseler Projekt handelt es sich dagegen nicht um eine Bestandsdokumentation, sondern um einen wissenschaftlichen Bestandskatalog, der nicht geschlossen als Buch, sondern sukzessive in Teilabschnitten digital veröffentlicht wird. Der erste, hier veröffentlichte Abschnitt umfasst über 100 Zeichnungen. Bis ins Jahr 2010 soll der Gesamtbestand publiziert sein.

Neben einer Erfassung der Zeichentechnik, der Bezeichnungen, der Stempel oder der Provenienz bemüht sich der Katalog um eine kunsthistorische Einordnung und Würdigung der Blätter, indem Fragen der Zuschreibung, Datierung und Lokalisierung, der Funktion der Zeichnungen sowie der Bedeutung ihres Bildgegenstandes nachgegangen wird. Die Texte richten sich dabei nicht ausschließlich an ein Fachpublikum, sondern sollen auch dem interessierten Laien verständlich sein. Deshalb wurden auch kurze Biographien zu den einzelnen Künstlern aufgenommen, die einen ersten Überblick über die wichtigsten Lebensstationen der Zeichner geben sollen.

Durch den Bestandskatalog der Architekturzeichnungen in der Graphischen Sammlung, dessen wissenschaftliche Erarbeitung über lange Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde, lagen in der Graphischen Sammlung bereits Erfahrungen mit digitalen Publikationen vor.[6] War es damals der Umfang, der zu dieser Publikationsform zwang – über 4000 Zeichnungen und Tausende von Manuskriptseiten hätten den Umfang einer Buchpublikation bei weitem gesprengt –, so lag nun eine Vorgabe des damaligen Direktors der Museumslandschaft Hessen Kassel vor, nach der Bestandskataloge in Kassel nur noch digital publiziert werden sollten. Vor diesem Hintergrund erschien es wichtig, die Vorteile, die digitale Publikationen gegenüber dem traditionellen Buch bieten, exemplarisch vorzuführen und eine Publikationsform für das Internet zu entwickeln, die den spezifischen Anforderungen der Handzeichnungsforschung gerecht wird. Hochaufgelöste, unproblematisch zu vergrößernde Bilder, die in der Qualität dem Original weitgehend gleichkommen, ermöglichen es, der Handschrift des Künstlers bis in die Details hinein nachzugehen. Angesichts der diffizilen Methodik der Handzeichnungsforschung, bei der es bei Zuschreibungsfragen häufig auf minuziöse stilistische Vergleiche ankommt, sollte dem Nutzer eine direkte Gegenüberstellung zweier Zeichnungen am Bildschirm, in die parallel hineingezoomt werden kann, geboten werden. Ein derartiger Bildvergleich bis in die Details hinein wurde unseres Wissens in dieser Form für kunsthistorische Publikationen im Internet noch nicht realisiert.

Die Zuschreibung von Handzeichnungen ist ein diffiziles Feld und der Ort kontroverser Diskussionen. Als Ersatz für die traditionelle Passepartoutnotiz lädt ein Kommentarfeld unter jedem Katalogeintrag dazu ein, Fehleinschätzungen zu korrigieren, Ergänzungen einzufügen oder abweichende Forschungsmeinungen darzustellen. Dies kann auch als Anregung zur Einrichtung einer Diskussionsplattform zur Handzeichnungsforschung im Netz verstanden werden. Ein engerer Zusammenschluss der Spezialisten zu einem Netzwerk und ein unproblematischer Austausch etwa über Fragen der Zuschreibung würden die Forschung sicherlich bereichern und auch kleineren Sammlungen die Erforschung ihrer Bestände erleichtern.

Als letzte Anforderung sollte der Katalog ohne großen Aufwand um andere Sammlungsbereiche wie die niederländischen, deutschen oder französischen Zeichnungen erweitert und so nach und nach zu einem Gesamtkatalog der Altmeisterzeichnungen in Kassel ausgebaut werden können.

Die Forschung zu italienischen Handzeichnungen wird weltweit von einem kleinen Kreis von Spezialisten bestritten. Sich als ausgewiesene ‚Nichtitalianistin‘ auf dieses Feld zu begeben, ist für die Unterzeichnete ein gewagtes Unterfangen, zumal der Kasseler Bestand regional und zeitlich weit gefasst ist, zahlreiche zweit- bis drittklassige Blätter umfasst, bei denen die Einordnung noch schwieriger wird und im überwiegenden Teil bislang gänzlich unbekannt war, so dass häufig keinerlei Hinweise zur Einordnung der Blätter vorhanden waren, auf die bei der Bearbeitung hätte zurückgegriffen werden können. Da der Bestand jedoch nicht prominent genug ist, um ihn durch Drittmittel finanziert einem Spezialisten zu übergeben, gleichzeitig aber zu schade, um die meisten der Blätter unter „Unbekannt“ brachliegen zu lassen, blieb nur der eingeschlagene Weg, um das Vermächtnis Erich Herzogs zu einer Bereicherung für die Sammlung werden zu lassen. Der Katalog sieht seine Aufgabe denn auch nicht darin, eine abschließende Forschungsmeinung zu publizieren, sondern die Diskussion anzuregen und weitergehende Forschungen zu ermöglichen.

Christiane Lukatis
Ernst Wegener

[1] Zum landgräflichen Kupferstichkabinett vgl. Hallo 1933; Lukatis 1999; Brakensiek 2003, S. 389–424.

[2] Oehler 1979; Lukatis 2000.

[3] Vgl. Inv. Nr. GS 9638, fol. 64, GS 9628 und GS 9629.

[4] Zur Sammeltätigkeit von Herzog im Bereich Graphik vgl. Heckmann 2000; Lukatis 2000, S. 11; Kat. Kassel 2002/2003, S. 7f.

[5] Ein Teil seiner Sammlung befand sich bereits als Dauerleihgabe in der Graphischen Sammlung. Eine Auswahl dieser Blätter wurde 2000 ausgestellt und durch Jürgen Lehmann publiziert (Kat. Kassel 2000, Nr. 9–12, 16–17, 41, 44). Bei fast allen Zeichnungen mussten die damals vorgenommenen Zuschreibungen geändert werden.

[6] Bestandskatalog der Architekturzeichnungen des 17.–20 Jahrhunderts in der Graphischen Sammlung der Museumslandschaft Hessen Kassel, Kassel 2004/2005/2007, <http://www.museum-kassel.de>.