Gherardo Cibo

(Rom oder Genua 1512 – Rocca Contrada, heute Arcevia 1600)

Studie eines Baumes mit einem Bauern

Feder in Braun, braun laviert, weiß gehöht auf verblichenem blaugrünem Papier, kaschiert, 24,5 x 17,5 cm

GS 23325

Literatur:

Auktionskat. Karl & Faber 11.6.2010, Nr. 97

Die sorgfältig ausgeführte Studie eines Baumes auf blauem Papier, die kürzlich der Graphischen Sammlung zum Geschenk gemacht wurde, ist ein wichtiges Belegstück, denn Landschaftszeichnungen oder Naturstudien fehlten, von einer Ausnahme abgesehen, bislang unter den italienischen Zeichnungen in Kassel. Das Blatt wird dem Landschaftszeichner und Botaniker Gherardo Cibo zugeschrieben, einem hochgebildeten Dilettanten aus vornehmer adliger Familie, der sich nach zahlreichen Reisen 1540 auf das Familienanwesen nach Rocca Contrada in den Marken zurückzog, wo er sich ganz seinen vielfältigen Neigungen widmen konnte.

Sein künstlerisches Werk geriet schnell in Vergessenheit. Berühmt war er zu Lebzeiten vor allem für seine botanischen Illustrationen. Das gezeichnete Londoner Herbarium, in dem er Pflanzen in ihrem natürlichen Umfeld vorstellte, gehört zu den bedeutendsten botanischen Veröffentlichungen seiner Zeit.[1] Darüber hinaus kolorierte Cibo Holzschnitte naturkundlicher Publikationen. Den großformatig in Szene gesetzten Pflanzen- oder Tierdarstellungen fügte er phantasievolle Landschaftshintergründe hinzu. Mit Feder und Stift durchstreifte er seine Umgebung und hielt topographisch exakt Landschaften, Gebäude, Orte, geologische oder botanische Besonderheiten fest. Viele dieser vor der Natur ausgeführten Skizzen versah er handschriftlich mit Kommentaren und mit dem genauen Datum. Seine bildhaft im Atelier ausformulierten Landschaftszeichnungen orientieren sich oft an niederländischen Kupferstichen etwa von Hieronymus Cock (1510–1570).[2] Aufgrund des ausgeprägten nordischen Einflusses waren viele seiner Zeichnungen ehemals niederländischen Künstlern zugewiesen.

Sein zeichnerisches Œuvre hat erstmals Jaap Bolten zusammengestellt, allerdings noch Messer Ulisse Severino da Cingoli zugewiesen, der in einem Skizzenbuch der Biblioteca Comunale in Jesi namentlich erwähnt wird.[3] Arnold Nesselrath konnte dieses Buch überzeugend Gherardo Cibo zuweisen.[4] Seither sind immer wieder Zeichnungen seiner Hand aufgetaucht.

Die Kasseler Zeichnung zeigt formatfüllend einen Baum von schlankem Wuchs. Mit raschen, kurzen Federstrichen hat der Zeichner den Stamm und das Laubwerk des Baumes zunächst nur angedeutet. Eine großzügig aufgetragene Lavierung und die Weißhöhungen auf den Blättern verleihen dem Laubwerk Tiefe und bringen Licht und Atmosphäre in die Darstellung. Die abwechslungsreiche Strichführung sorgt zusätzlich für Lebendigkeit.

Neben dem Baum hat Cibo einen Bauern platziert, der ein Bündel Ähren über der Schulter trägt und die Sichel in der rechten Hand. Figurendarstellungen, die der Natur ebenbürtig gegenübertreten, finden sich nur sehr selten in den Landschaften Cibos, die in der Regel von kleinen Staffagen genrehaften Charakters bevölkert werden. Eine Ausnahme bilden etwa eine Miniatur des Londoner Herbarium, auf dem Botaniker beim Sammeln von Pflanzen dargestellt sind,[5] sowie ein mit der Feder ausgeführtes Studienblatt zu einer Versuchung Christi[6], das zu den wenigen Zeugnissen gehört, in denen sich Cibo mit religiösen Themen auseinandergesetzt hat. In der Figurenauffassung zeigen beide Werke große Übereinstimmungen mit der Kasseler Zeichnung.[7]

Unterricht im Zeichnen gehörte seit dem 16. Jahrhundert in Italien zur fürstlichen Erziehung.[8] Dass auch Dilettanten dabei ein hohes Niveau erreichen konnten, bezeugen die Landschaftszeichnungen und Naturstudien von Gherardo Cibo.

[1] Tongìorgo Tomasi 1989, S. 41–46.

[2] Fischer Pace 2008, Nr. 276–281.

[3} Bolten 1969; Kat. San Severino Marche 1989, Nr. 40.

[4] Nesselrath 1989, S. 17–19; Nesselrath 1993, S. 5.

[5] London, British Library, Ms Add, 22332, fol. 3 (Kat. San Severino Marche 1989, Taf. VII).

[6] Fossombrone, Biblioteca Civica Passionei, Inv. Disegni vol. 4, c. 42 (Kat. San Severino Marche 1989, Nr. 52, Abb. 52).

[7] Die Baumdarstellung zeigt stilistisch Parallelen etwa mit Kat. San Severino Marche 1989, Nr. 25, Taf. 35. Zu dem mit spitzer Feder rasch eingezeichneten, von Gräsern bewachsenem Grund, auf dem der Baum steht, vgl. auch Nesselrath 1989, Abb. 13, 14.

[8] Kemp 1979, S. 57f.

Veröffentlicht am 13.08.2012

Letzte Aktualisierung am 19.10.2012