Paolo Veronese

(Verona 1528 – Venedig 1588)

Studie zur thronenden Venezia in der Sala del Collegio im Dogenpalast in Venedig, 1576

Graphit, Feder in Braun, graubraun laviert auf Papier, alt montiert, 24,8 x 20,6 cm (alle Ecken fehlen)

Rechts parallel zur Bildkante mit brauner Feder bez.: I IN TVTO IVSTVS / II RELIGIO EX OPERIBVS / III VERA DIGNOIISCITVR / IIII NVMEN FORTI ROBVR / QHK

Provenienz:

Giacomo Conte Durazzo, Genua; Else Lueder, Celle

GS 1124

Literatur:

Oehler 1953, Abb. 4, 5; Cocke 1973, S. 138, 140–141, Abb. 8; Pignatti 1976, Nr. A 353, Abb. 1026; Oehler 1979, S. 9; Wolters 1983, S. 263, 267, Abb. 277; Cocke 1984, S. 197–198, Nr. 83, Abb. 83; Lehmann 1986, Abb. auf dem Vorsatz; Cocke 1988, S. 490; Kat. Venedig 1988, S. 66, Nr. 24, Abb. 24; Sinding-Larsen 1990; Aurenhammer 1992, S. 289; Kat. Tokyo 1998, Nr. D-2 mit Abb.; Kat. Kassel 2000, S. 26, Nr. 5, Abb. S. 27; Kat. Paris 2004, S. 148, Nr. 33, Abb. S. 149

Nach dem Brand des Dogenpalastes im Mai 1574, bei dem neben der Sala delle Quattro Porte auch die benachbarten Räume des Collegio und des Senats zerstört wurden, erhielt Paolo Veronese u. a. den Auftrag, ein Deckenbild mit einer Darstellung der thronenden, Gaben verteilenden Venezia für das Vorzimmer der Sala del Collegio auszuführen. Zu diesem Bild haben sich mehrere Zeichnungen erhalten, die verschiedene Stadien des Entwurfsprozesses dokumentieren.

Das früheste, in seiner Deutung allerdings umstrittene Blatt, das mit dem Gemälde in Verbindung gebracht wurde, befindet sich in einer New Yorker Privatsammlung (Abb. 1) und zeigt neben anderen Skizzen in der oberen Blatthälfte zwei Varianten zu einer Venezia, die in erhöhter Position und leichter Schrägansicht zwischen zwei Säulenpaaren thront.[1] Auf den Stufen vor dem Thron knien ihre Untergebenen oder nähern sich mit ihren Tributen. Eine dritte Skizze auf der Rückseite des Blattes behält die Szenerie weitgehend bei, wechselt allerdings die Perspektive. Statt schräg von rechts blickt der Betrachter jetzt von links auf das Geschehen.

Die rückseitige Beschriftung des Blattes „[Pr]imo nel fianco a la ba[n]da destra del Coligio“[2] benennt die Sala del Collegio als Ort, für den der Entwurf gedacht war, und nicht die Anticamera. Dem entspricht die Interpretation von Wolfgang Wolters, der die New Yorker Zeichnung im Gegensatz zu Richard Cocke nicht auf das Vorzimmer, sondern auf die Sala del Collegio selbst bezogen hat.[3] Die fehlende Untersicht, die Deckenentwürfe auszeichne, spreche dafür, dass die Zeichnung eher ein Gemälde oder einen Bildteppich vorbereite als ein Deckenbild. Nach Wolters könnte der Entwurf mit einer Ausstattungsphase der Sala del Collegio zusammenhängen, die nach 1574 angestrebt, aber bereits drei Jahre später im Dezember 1577 in Folge eines zweiten verheerenden Brandes wieder aufgegeben wurde. Der verworfene Entwurf scheint später von Veronese für das Deckenbild des Vorzimmers zur Sala del Collegio in reduzierter Form wiederaufgenommen worden zu sein.

Die zweite Zeichnung, die mit dem Deckenbild verbunden wird, hat sich nur in einer Kopie von Carletto Caliari (1570–1596), dem zweitältesten Sohn Veroneses und seinem langjährigem engem Mitarbeiter, erhalten (Abb. 2).[4] In der grundsätzlichen Disposition, der erhöht zwischen Säulen thronenden Venezia, folgt das Blatt dem New Yorker, zeigt die Architektur und die Hauptfigur jedoch in frontaler Ansicht und, der Funktion als Deckenbild entsprechend, in Untersicht und eingepasst in ein rundes Deckenfeld. Einige der Figuren wie die nackten, am Boden knienden Gefangenen, übernahm er in nur leicht variierter Form von dem New Yorker Blatt.

Am 29. Juli 1576 begann Marco Angolo del Moro (1536–1586) mit den Stuckarbeiten für das Deckenfeld in der Sala del Anticollegio. Das Datum stellt einen Terminus ante quem dar für die verlorene, von Caliari kopierte Originalzeichnung Veroneses, denn Moro wählte eine oktogonale und keine runde Form für den Stuckrahmen. Die oktogonale Form zeigt denn auch die Kasseler Entwurfszeichnung aus der Sammlung Durazzo und gibt damit das letzte bekannte Entwurfsstadium wieder.

Auf der Kasseler Zeichnung widmete sich Veronese zunächst der Figur der Venezia. In starker Untersicht skizzierte er sie ein erstes Mal im unteren Drittel des Blattes als Aktfigur, um ihre Proportionen besser erfassen zu können. Dabei nutzte er den unteren Blattrand gewissermaßen als Stufe, auf der sich die Figur mit dem Fuß aufstützt. Das Suchen nach dem angemessenen Ausdruck zeigt sich in der vorsichtigen, noch tastenden Zeichenweise, bei der etwa die Konturen mehrfach mit der Feder nachgezogen wurden und der Kopf des Engels vom Arm der Venezia überschnitten wird, da die beiden Figuren nicht in einem Guss konzipiert wurden.

In der oberen Blatthälfte erprobte Veronese anschließend die Venezia ein weiteres Mal, fügte die Architekturkulisse hinzu sowie als Begleitfiguren die fünf Putten, die „Grazie“ an die in gewagter Verkürzung wiedergegebenen Untergebenen verteilen. Anschließend verlieh er dem Blatt durch eine graubraune Lavierung Tiefe und versah es mit dem oktogonalen Rahmen.

Im Vergleich zur unteren Skizze ist die Strichführung im oberen Bereich des Blattes sicherer geworden. Der Prozess der Bilderfindung scheint vorerst zu einem Ergebnis gekommen zu sein – jedoch nur vorerst, denn eine Gegenüberstellung der Kasseler Skizze mit der ausgeführten Version zeigt deutlich, dass Veronese die Komposition noch einmal grundlegend veränderte und dabei, wie Wolters dargelegt hat, auch die inhaltlichen Akzente verschob. In der ausgeführten Version rückte er Venezia aus dem Zentrum der Darstellung in die obere rechte Ecke. Zudem wählte er eine extreme Untersicht, die eine kaum zu überbrückende Distanz zwischen Venezia und ihren Untergebenen herstellt. Dieser kompositionellen Akzentverschiebung entspricht eine inhaltliche. Während Venezia auf dem New Yorker Entwurf noch die Tribute ihrer Gefolgsleute entgegennimmt, wird sie im Kasseler zur Gebenden. Gemeinsam mit den Putten verteilt sie Schriftstücke, Krone, cornu ducale, Bischofsmütze oder -stab. In der ausgeführten Version ordnet Veronese die gottähnlich inszenierte Venezia auf einer Diagonalen mit einem bärtigen Mann an, der weit unter ihr kniet. Ein Putto überreicht dem Bärtigen die vor blauem Himmelsgrund in Szene gesetzte Bischofsmütze. Nach Wolters ist damit die Verleihung der Bischofswürde durch die Stadt Venedig zum eigentlichen Thema des Deckenbildes geworden. Das Bild wird zur „Mahnung, daß Venedig sich das Recht, kirchliche Würdenträger einzusetzen, nicht werde nehmen lassen“.[5]

Die vier Inschriften sowie die kleine Architekturskizze rechts neben der Venezia stehen in keinem Zusammenhang mit dem eigentlichen Entwurf. Wie so häufig bei seinen Zeichnungen wechselte Veronese auch hier unvermittelt das Thema, indem er Einfälle zu anderen Projekte auf demselben Blatt notierte. So stehen die Inschriften vermutlich im Zusammenhang mit seinen Aufträgen für die Sala del Collegio, weichen dort aber von den ausgeführten Titeln deutlich ab.[6] Die Architekturskizze soll Übereinstimmungen mit der Tür des Anticollegio aufweisen[7] und taucht in ähnlicher Form auf einer anderen Kasseler Veronese-Zeichnung wieder auf (GS 1121).

[1] Feder in Braun, braun laviert, 20,3 x 28,8 cm (Cocke 1984, Nr. 82 mit Abb).

[2] Cocke 1984, S. 197.

[3] Vgl. auch in Folgenden Wolters 1983, S. 261.

[4] Graue Kreide, Feder in Braun, braun laviert, 22 x 22,2 cm, Windsor Castle, Royal Library, Inv. Nr. 4789 (Popham/Wilde 1949, Nr. 1023 mit Abb.; Cocke 1984, S. 197, Abb. 53).

[5] Wolters 1983, S. 267.

[6] Wolters 1983, S. 263.

[7] Kat. Venedig 1988, S. 66; Kat. Paris 2004, S. 146.

Veröffentlicht am 10.09.2008

Letzte Aktualisierung am 29.01.2009