Unbekannt


Studie einer jungen Frau, um 1620

Kohle, grau laviert auf violettgrau getöntem Papier, 12,2 x 11,5 cm

Rückseitig oben links Sammlerstempel Lugt 2799b

Provenienz:

Nachlass Erich Herzog, Kassel

GS 17139

Literatur:

unpubliziert

Auf violettgrau getöntem Papier hat der bislang noch nicht identifizierte Zeichner mit einem spitzen Kohlestift eine junge Frau als Halbfigur erfasst, die demütig ihr Haupt senkt. Ihr Gesicht erscheint im Vollprofil nach links, der Oberkörper in Dreiviertelansicht. Große Aufmerksamkeit widmet der Zeichner den Händen der Dargestellten, die sie auf der Brust übereinandergelegt hat. Wurde der behutsame Druck des Stiftes beim Gesicht kaum variiert, so hat der Zeichner die Hände durch mehrfaches kräftiges Nachziehen des Konturs prägnant umrissen und mit fein abgestuften Strichen von der dunklen Konturlinie bis zum frei belassenen Ton des Papiers plastisch im Licht modelliert. Neben der Haltung der Frau scheint es ihm vor allem auf das genaue Studium dieses Händepaars angekommen zu sein.

Aus welchem thematischen Zusammenhang könnte die junge Frau stammen? Handelt es sich um eine Maria aus einer Verkündigung oder eher um Christus und die Ehebrecherin, ein Thema, bei dem die Sünderin vereinzelt in ähnlicher Pose wiedergegeben wird?[1] Auch Tamar, die von ihrem Halbbruder vergewaltigt und danach von Absalom aufgenommen wurde, erscheint zuweilen in vergleichbarer Haltung.[2]

Solange der Kontext unklar ist, aus dem die Figur stammt, wird die Frage unbeantwortet bleiben müssen, wie viele andere, die im Zusammenhang mit diesem Blatt auftauchen.

So vermag die alte Zuschreibung an Guido Reni (1575–1642) heute nicht mehr zu überzeugen, wenngleich die Zeichnung den frühen römischen Werken des Bologneser Künstlers sehr nahe steht. Als Schüler der Carracci spielte das Studium nach dem lebenden Modell für Reni eine besondere Rolle. Auch die Kasseler Studie scheint nach einem Modell angefertigt worden sein. Die Eindringlichkeit, mit der sich der Zeichner den Händen und dem Gesicht als wichtigsten Ausdrucksträgern zuwendet, weist durchaus Parallelen zu Kreidestudien Renis auf. Die Technik der Kasseler Zeichnung findet jedoch bei dem Bologneser Maler keine Parallele. Reni verwendete meist durchgefärbte Naturpapiere und schwarze sowie weiße Kreide. Zeichnungen auf getönten Papieren sind für ihn kaum nachgewiesen[3] und auch die Verwendung eines derart spitzen Kohlestifts wäre bei ihm ungewöhnlich. Subtilste Lichteffekte setzte der Zeichner abschließend etwa im Gesicht der Dargestellten durch eine flächige, fast Ton in Ton mit dem Papier gehaltene Lavierung.

Nach Veronika Birke, Wien, könnte die Studie von einem begabten Schüler oder Werkstattmitarbeiter Renis stammen, etwa von Francesco Gessi (1588–1649),[4] der vermutlich von 1615 bis 1625 in einer Schlüsselfunktion in der ‚bottega‘ tätig war. Das zeichnerische Werk Gessis ist allerdings noch nicht abschließend zusammengestellt worden.[5] Die ihm bislang sicher zuschreibbaren Blätter stimmen zwar in der allgemeinen Anlehnung an Reni mit dem Kasseler Blatt überein, wirken aber unpräziser und weniger kompakt in den Details. Sollte die Zeichnung doch eher einem römischen Künstler zuzuordnen sein, wie Hugo Chapman, London, vorgeschlagen hat?

Bislang nicht identifiziert ist auch der ungewöhnlich große, auf der Vorderseite aufgebrachte Sammlerstempel mit dem Motiv einer Sphinx.

[1] Die Ehebrecherin wird meistens mit gefesselten Händen dargestellt. Für den Gestus der übereinandergelegten Hände mit gesenktem Kopf vgl.: Alessandro Varotari, Christus und die Ehebrecherin, Wien, Kunsthistorisches Museum (Kat. Wien 1991, Taf. 239).

[2] Vgl. etwa: Guercino, Absalom und Tamar, Tatton Park, Cheshire (Salerno 1988, Nr. 218).

[3] Catherine Grace Johnston führt in ihrer Dissertation nur wenige Zeichnungen Renis auf getönten Papieren auf (vgl. etwa Johnston 1974, Nr. 5).

[4] E-Mail vom 11.01.2006. Ich danke Veronika Birke für ihre freundlichen Auskünfte.

[5] Kat. Stuttgart 1978, Nr. 18–20; Pellicciari 1989; Kat. Florenz 2008/2, Nr. 70–73, Anhang, Nr. 45–58.

Veröffentlicht am 14.12.2010

Letzte Aktualisierung am 19.10.2012